Werkstatt: Wie ich aus einem schriftlichen Text eine mündliche Geschichte mache!

Märchenbücher gibt es zu Hauf, jedes Jahr kommen neue Ausgaben mit Märchen und Sagen heraus, in den Antiquariaten finden sich alte Sammlungen, die mündliche Erzählungen in Texte gefasst haben oder literarische Märchen, die für das Vor- oder Selberlesen gedacht sind – Märchenmaterial gibt es mehr als genug.

Doch beim Erzählen, wie ich es verstehe und praktiziere, geht es nur am Rande, wenn überhaupt, um den geschriebenen Text. Im Zentrum steht die freie Erzählweise, welche die Geschichten im Moment des Erzählens entstehen lässt, zur Interaktion mit dem Publikum einläd, die dem Ort und dem Anlass wahrnimmt und einfließen lässt.

Darum, wie ich aus einer Textvorlage eine mündlich erzählbare und im Moment des Vortrags frei zu gestaltende Geschichte mache, soll es in diesem Beitrag gehen.

  1. Lesen und Sichten – Sichten und Lesen
    Der erste Schritt besteht darin, mir ein Märchenbuch zu nehmen und es von vorn bis hinten durchzulesen. Dabei überfliege ich den Text nur. Wenn mich das Märchen anspricht, es mich berührt, Bilder auftauchen lässt oder Themen beinhaltet, die mich im Erzählen bewegen, dann kommt ein Lesezeichen zwischen die Seiten. Und das Buch lese ich weiter. In der Regel finden sich beim ersten überfliegen fünf oder sechs Geschichten, die mich ansprechen und die ich dann noch einmal lese. Zum Schluss bleiben nur mehr ein oder zwei der Geschichten übrig, denn nicht alle Märchen halten, was der erste Eindruck verspricht: Manchmal ist die Pointe fad oder nur schwer in die heutige Zeit übertragbar, manchmal ist die Geschichte inhaltlich zusammenhanglos, manchmal verbergen sich alte, überkommene Ansichten und Haltungen in den Handlungen – diese Geschichten landen in meiner Ablage mit dem Vermerk: Umarbeiten. (Diese Ablage wächst in der Regel schneller, als ich sie abarbeiten kann.)
  2. Lesen und Inhalte betrachten.
    Die Märchen, welche den ersten Schritt überstanden haben, lese ich nun ein weiteres Mal. Diesmal mit Blick auf die Struktur der Geschichte:
    Aus welchen und wie vielen Teilen besteht sie?
    Welche Personen kommen darin vor? Was sind deren Motivationen?
    Welche Orte und Gegebenheiten beeinflussen die Geschichte?

    Während ich den Text auf diese Weise durchgehe, zeichne ich auf einer Karteikarte eine Art Mindmap, auf der ich die Charaktere, deren Motivationen und die Orte notiere und mit Linien verbinde. So entsteht das Grundgerüst der Geschichte, die Storyline mit all ihren Verflechtungen, Haupt- und Nebensträngen.
  1. Die freie Textarbeit beginnt!
    Jeden Eintrag auf der Mindmap baue ich aus, mache mir Gedanken, wer die handelnden Personen sind, schreibe auf, was sie antreibt, wer sie sonst in ihrem Leben sind, beschreibe Orte und Abstrakta wie „die Zeit“ oder „der Tod“, wenn sie für das Märchen eine Rolle spielen. Während dieser Arbeit entferne ich mich vom Ursprungstext aus der Buch-Vorlage und beginne, meine eigenen Worte und Bilder zu finden. Mit diesen einzelnen, voneinander unabhängigen Textblöcken im Hintergrund beginne ich, die Geschichte das erste Mal frei zu erzählen. Dabei verwende ich den Ursprungstext gar nicht mehr.
  1. Das Märchen „rund“ erzählen.
    Das Märchen wird erzählt. Ich erzähle es mir selbst beim Spazieren gehen oder Fahrrad fahren oder in der Badewanne. Erzähle es der Familie, anderen Erzähler:innen, hole mir Feedback. Bearbeite im Erzählen holprige Stellen, kürze Überflüssiges oder füge noch etwas hinzu – das alles geschieht nur im Kopf und im Austausch mit anderen Menschen – ich verinnerliche die Geschichte solange, bis ich sie, gleich einer Erinnerung an eine erlebte Begebenheit, frei erzählen kann.
  2. Auf die Bühne
    Nun ist die Geschichte reif. Ich kann sie frei erzählen, im direkten Kontakt mit den Zuhörenden, gehe dabei auf Reaktionen und Fragen ein, füge dem Märchen etwas hinzu oder lasse etwas weg, binde das Publikum in die Erzählung mit ein – spätestens jetzt ist die Erzählung in meinem Repertoire verankert und spontan anwendbar.

Titel des Original-Textes im Buch: „Der Arme und seine Mira“

aus „Märchen griechischer Inseln und Märchen aus Malta“, S. 53 – Diederichs Märchen der Weltliteratur – rororo
Gefördert vom Amt für deutsche Kultur der Autonomen Provinz Bozen.
Gefördert von

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